Wanderung

Hinter dem Berggasthaus geht der Pfad über eine steile ballonrunde Almwiese hinauf. Der Einstieg wird von zwei Ziegen bewacht, die mich neugierig beäugen.
Nur nicht zu schnell und mit kurzen Schritten gehen, das wird mich ohne große Anstrengung hinauf bringen.
Das Alpenpanorama um mich herum, umwerfend schön im Morgenlicht, die Sonne gerade über den Bergspitzen aufgegangen, lässt das vom Frost silbrige Gras glitzern und blitzen.
Mir wird zum ersten Mal richtig warm.
Am Ende des Wiesenpfades versperren waagerechte, runde Stangen den Weg, aber eine s-förmige, schmale Öffnung, lässt Wanderer durch. Ein Rinnsal aus dem nahen Hohlweg sucht sich hier einen neuen Weg und bildet eine größere Pfütze. Von Stein zu Stein komme ich trockenen Fußes zurück auf den Pfad, der durch den Hohlweg in den Wald nach oben führt. Steinig und unbequem, weil jeder Schritt genau gesetzt werden muss, suche ich eine andere Möglichkeit und sehe, dass andere Wanderer vor mir schon einen neuen Pfad am Rande des Weges durch den Wald gefunden haben. Es geht hier leichter und weniger anstrengend. Weiter oben ist wieder ein Zaun quer durch den Hohlweg gezogen, aber für Wanderer ist ein Übersteig, eine Holzstufe auf jeder Seite des Zauns, zum Überklettern.
Ich bleibe mit dem rechten Fuß am oberen Draht hängen und muss es noch einmal versuchen.
Die Gedanken schweifen ab, suchen den Grund für diese Einschränkung. Sie gehen viele Jahre zurück. Fast vergessene Bilder einer Krankheit kommen plötzlich wieder hoch. Und dann Dankbarkeit und Glücksgefühl für die Genesung verdrängen die Erinnerungen sofort wieder.
Vor mir ein Bild zum Malen, die noch schräg stehende Morgensonne dringt an verschiedenen Stellen durch die Bäume, und lässt die die Grashalme und Büsche am Rande des Weges dampfen. Kleine feine Wölkchen steigen auf und werden vom leichten Windhauch vertrieben.
Still ist es hier oben und ich bin ganz allein. Die Vögel halten sich jetzt im Herbst zurück, lediglich Eichelhäher melden mich als Störenfried in Ihrem Revier. Ein Feldkreuz, ein geschnitztes, etwas verwittertes Kruzifix in einem überdachten Häuschen, mit einer Blumenvase, darin Kunstblumen als bunter Schmuck steht am Wegesrand. Ich bleibe stehen um es zu betrachten, ziehe meine Kappe ab. Vor vielen Jahren hier aufgestellt, erinnert es vielleicht an einen verunglückten Holzfäller oder Senner. Ein verwitterter Spruch unter dem Kreuz nicht mehr lesbar.
Die Sonne Steigt höher und es wird wärmer, das Glitzern im Gras ist verschwunden. Von ferne höre ich Kuhglocken, Schritt für Schritt kommt das Gebimmel näher und ich befinde mich wieder auf einer Alm, die ich durch ein Gatter betrete Das Gatter ist mit einem Seil und einem Stein an einer Umlenkrolle versehen schließt hinter mir mit Knarren, ich schaue mich um, ob es richtig verschlossen ist. Eine weite sattgrüne Wiese liegt vor mir, der Wanderweg führt stetig aufwärts durch sie hindurch, zu einem weiteren Gatter, auf gleicher Weise mit Stein und Seil gesichert. Ich bin schon über eine Stunde unterwegs und fühle mich der Natur nah. Die Gedanken die mir durch den Kopf gehen, sind weit weg von mir. Erst als ich in der Ferne zwei Wanderer mir entgegenkommend sehe, ist das angenehme Gefühl des Alleinseins nicht mehr da. Gut ausgerüstet für lange Wanderungen kommen die jungen Leute an mir vorbei, mit freundlichen Grüß Gott. Die großen Rucksäcke sind wohl für größere Touren gefüllt.
Meine Ausrüstung beschränkt sich auf ein Getränk ein Brötchen und ein Apfel
Für einige Stunden wandern wird es reichen.
Als die Sonne wärmer wird packe ich die Windjacke um die Hüfte, als das zu unbequem wird, rolle ich sie ein und verstaue sie im Rucksack.
Hinter dem nächsten Gatter geht der Weg weiter steil aufwärts und wird bald auf einen Höhenweg einmünden, der mit wenig auf und ab am Berg entlang zu verschiedenen bewirtschafteten Hütten führt.
Kleine Heustadel und Unterstände für das Vieh säumen den Pfad.
Es fällt mir nicht mehr schwer, einen weiteren steilen Aufstieg in Angriff zu nehmen, ich habe mein Tempo gefunden.
Die Gedanken sind schon lange wieder unterwegs und viele Bilder aus der Vergangenheit, Erinnerungen und Erlebnisse spulen sich da wie ein Film im Kopf ab.
Wie schön diese Erinnerungen sind!. Vielleicht muss das ja so sein, denn in einem langen Leben ist doch vieles geschehen, was Weichen stellte und in unerwartete Richtung lenkte. Jetzt fange ich an zu verstehen, warum Menschen auf Pilgerreise gehen und nicht die Ankunft, sondern den Weg als das Ankommen bei sich selbst beschreiben.
Hier in der Stille und der überwältigend schönen Bergwelt kann ich über mich nachdenken. Das Alleinsein tut gut, keine Ablenkung macht Gedankenspaziergänge mit und über sich selbst möglich. Jetzt empfinde ich dies selbst, eine angenehme Bereicherung.
Endlich geschafft, ich bin auf dem Höhenweg, einem gut befestigten Weg, der vom Tal in vielen Windunger herauf führt und dem Betrieb der vielen Almhütten dient. An der Einmündung zum Höhenweg lädt mich eine Bank an einer Hütte ein, eine Rast zu machen, in die Sonne zu blinzeln, den Apfel und das Brötchen zu verspeisen und den aufkommenden Durst zu löschen.
Von hier aus kann ich noch stundenlang wandern und mir selbst zuhören. Um die Mittagszeit möchte ich eine bewirtschaftete Almhütte aufsuchen. Mitten in der Woche werden nicht viele Wanderer unterwegs sein und ich kann eine Mußestunde zusätzlich mit ein wenig Lesen im mitgebrachten Buch verbringen. 5 Fliegenpilze Danach muss ich an den Rückweg denken, er dauert sicher weniger lang, da es fast nur bergab geht.
Vor mir auf einer leichten Anhöhe finde ich eine Panorama-Tafel, von Nord nach Süd ausgerichtet mit allen Gipfeln, Dörfern und Städten, die ich von hier aus zwar nicht alle sehen, aber doch erahnen kann.
Die Gipfel um mich herum sind weiß vom Neuschnee der letzten Nacht, die Frostgrenze bildet eine exakt gerade Linie und geht dann in dunkles Grau, später in Grün über. Die Namen sagen mir nichts, sind auch nicht unbedingt wichtig für mich, ich genieße das Bild und versuche es mir einzuprägen.
Weiter im gleichmäßigen Wanderschritt. Eine Hütte mit einer gehissten Fahne in der Ferne ist jetzt das anzustrebende Ziel. Die Sonne steht jetzt hoch und wärmt herrlich durch trocknet das leicht verschwitzte Hemd. Vor der in einer schützenden Senke stehenden Hütte setze ich mich auf die hölzerne Terrasse. Wenige andere Wanderer haben sich eingefunden. Auch diese genießen spürbar die Ruhe und die schöne Aussicht auf das Alpenpanorama.
Das Essen ist einfach und gut, ich bleibe in der Sonne sitzen, ziehe mein Mützenschirm über die Augen und beginne zu lesen. Mehrfach merke ich, wie das Taschenbuch mir aus der Hand zu rutschen droht und ich einige Zeilen zurück gehen muss um den Anschluss wieder zu finden.
Ich breche wieder auf und wähle einen Rundwanderweg, der durch einige Wäldchen, an kleinen Tümpeln und Hochmoor ähnlicher Landschaft vorbei führt. Manchmal muss ich gebückt unter tief hängende Ästen hindurch, über aus Latten hergestellte Treppchen hinunter gehen. Um wie Findlinge in den Wiesen liegende Felsbrocken herum komme ich wieder zum Höhenweg zurück, weit ab von meinem Einstieg zum Pfad nach unten.
Zeit genug um einen anderen Wanderpfad zu wählen, der bald nach unten abzweigen wird.
Auf dem Weg komme ich zu einer kleinen Kapelle, darin einige Bänke vor dem kleinen Altar ein Kruzifix, daneben zwei Heiligenfiguren und an der Wand Kondolenz- und Dankeskarten für die Verstorbenen der Bergbauernfamilien. Ein Buch zum Eintragen von Gebeten und Wünschen liegt aus, eifrig benutzt. Die Eintragungen sind kleine Spiegel von Hoffnungen, wünschen und Danken im Leben Anderer. Mir ist danach auch etwas einzutragen, aber mehr als „Danke für den schönen Tag“ bringe ich nicht zustande, zu viele Gefühle und Gedanken sind mir heute schon durch den Kopf gegangen. Als ich wieder in die Sonne trete, merke ich erst, wie kühl es in dem Kirchlein ist.
Der Weg führt nun im weiten Bogen abwärts und in der Ferne ist wieder eine Almhütte zu sehen. Davor zweigt der Pfad ins Tal ab und schlängelt sich durch Wälder und über Almen zurück zu einer befahrbaren Straße. Dann wieder zurück in den Wald. Der Weg ist aber sehr beschwerlich, er führt wieder durch einen von herunterschießendem Wasser gebildeten Hohlweg, jetzt allerdings trocken, aber bei jedem Schritt ist unsicher, rollende Steine erschweren den Abstieg. Dann mündet der Pfad wieder auf einem Fahrweg, dem ich jetzt um alle Spitzkehren folge. Steile Böschungen, mal sonnenbeschienen, mal im Schatten, Farne, rot-weiß getupfte Fliegenpilze und die seltenen Silberdisteln begleiten mich.
Der Pfeil weist nach rechts, wieder eine Zaun, die Stufenbretter sind wackelig und morsch. Eine romantische Waldwiese öffnet sich, der Pfad führt mich unter einzelnen umgestürzten Bäumen hindurch und die Sonne bescheint ein riesiges Spinnennetz in dessen Mitte die Spinne auf Beute wartet. Das Gegenlicht zeigt die Kunst ihre Netzbaues. Hier und da hohe blühende Disteln.
Die näherkommenden Fahrgeräusche von einer Straße zeigen mir an, dass ich bald wieder den Bereich des Alleinseins verlassen werde. Aber vielleicht gibt es ja noch einen schönen Sonnenuntergang zu Ausklang meiner Gedanken-Wanderung…

Auf Wiedersehen!
Schade, dass Sie schon gehen!
Ich würde mich freuen,
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